Ankunft in Mexiko-StadtDie ersten Eindrücke von Mexiko-Stadt sind begeisternd und verwirrend zugleich. Sich vermischende Szenen stellt die Schriftstellerin und Mexiko-Expertin Susanne Asal dar.
Erste Impressionen können von der Megalopolis sowohl bei dem großartigen Erlebnis einer Flugzeuglandung im gewaltigen Lichtermeer als auch im anstrengenden Chaos in den Straßen gesammelt werden. Aber auch bei genauem Hinsehen vermengen sich widersprüchliche Bilder. Der alltägliche Überlebenskampf vieler Einwohner spielt sich inmitten der imposanten Zeugnisse des reichen, historischen Erbes ab. Diese Extreme existieren grundsätzlich im gesamten Land in einer einzigartigen mexikanischen Einheit.
Mexiko-Stadt: Die Revolution
neben dem Prunk
Nachts ist die Faszination am größten. Vor den Blicken des Ankömmlings entfaltet
sich ein kostbar schimmerndes Gefunkel von unglaublicher Ausdehnung. Wie auf
dunklem Samt gebettet gleißen Myriaden von Lichtpunkten in der Dunkelheit.
La ciudad de México, Mexiko-Stadt, bereitet seinen späten Besuchern
einen prächtigen Empfang.
Wer zu einer anderen Tageszeit einreist, den trifft fast der Schlag. Wenn
es überhaupt eine Stadt gibt, auf die der Begriff Megalopolis zutrifft, dann
ist es diese. Bevor man sie sieht, riecht man sie schon. Eine unheilvolle
Dunstglocke klebt über der Metropole mit ihren geschätzten 23 Millionen Einwohnern.
Die genaue Zahl kennt keiner. Unter den braunen Schwaden schlingen sich die
ungegliederten Stadtviertel dicht über den Boden. Dieser erste Anblick löst
zweierlei aus: Er schüchtert ein, aber er verleiht auch Mut.
Täglich stranden drei- bis viertausend Menschen auf den Busbahnhöfen. Sie
kommen aus den Provinzen und haben ihre Felder aufgegeben für das, was ihnen
eine bessere Perspektive zu sein scheint: das Leben in der Hauptstadt. Wo
viele Menschen arbeiten und wohnen, muss doch noch ein Platz zu ergattern
sein! Und wenn nicht für einen selbst, dann doch für die Kinder, eine Schule,
eine Ausbildung. 30 000 Industriebetriebe sind hier konzentriert, da wird
sich doch eine Arbeit finden lassen! Auch wenn die Luft zum Himmel stinkt,
wenn das Abwassersystem bei starkem Regen nicht funktioniert, wenn man fünf
Stunden Fahrzeit täglich zur Arbeit rechnen muss, das ist immer noch besser
als das, was man zurückgelassen hat.
Die Straßen sind keine Straßen, sondern Schneisen durch eine unendliche Zusammenballung
von einstöckigen Häusern, die sich abmühen, ein wenig Geometrie in das Stadtbild
zu bringen. Menschentrauben warten an den Bushaltestellen. Der Verkehrslärm
dröhnt in den Ohren. Sieht so eine Stadt der Träume aus?
Nebeneinander liegt das scheinbar Widersprüchliche
An jeder Ampel bestürmt ein Heer von Verkäufern die Autofahrer: Man bietet
Rosenbüsche feil und Spielzeug aus Plastik, Süßigkeiten, Zeitungen. Kleine
Kinder wienern mit einem Fetzen am Fensterglas herum. Mütter stillen ihre
Babys auf den kümmerlichen Grünstreifen. Kann man hier sein Glück machen?
Wo sind die Paläste, von denen Alexander von Humboldt sprach, wo verbirgt
sich die sagenhafte Geschichte dieser Stadt mit ihrer vermessenen Architektur
über dem Grund eines Sees? Hat denn nicht ein Fünkchen dieser Pracht überlebt,
welche die spanischen Conquistadoren geblendet hatte?
Das Erstaunliche ist, dass sich die Stadt, obwohl sie so unwirtlich scheint,
all diese Spuren bewahrt hat. Nebeneinander liegt das scheinbar Widersprüchliche:
der Templo Mayor der Azteken neben der Kathedrale und dem Regierungspalast,
auf der Plaza de las tres Culturas die modernen Hochhäuser neben dem
indianischen Ballspielplatz und der barocken Kirche. Die Basílica der
Jungfrau von Guadalupe auf dem Hügel Tepeyac, auf dem einst die Göttin Tonantzín
verehrt wurde. Der Gemüsemarkt neben dem Sonoramarkt, wo gekreuzigte Kaninchenpfoten
neben grinsender Satansbrut aus Plastik von der Decke baumeln.
Im Nationalpalast und im Palacio de Bellas Artes verkünden Wandmalereien,
murales, von Diego Rivera, José Orozco und Alfredo Siqueiros revolutionäre
Botschaft: "Befreit euch aus den Ketten der Abhängigkeit, entdeckt eure eigene
Größe, Vielfalt, Kultur." Botschaften, die man an solchen Orten nicht vermuten
würde.
Alles gehört ganz eng zusammen
Es geht ein Riss durch das erste Bild von Mexiko-Stadt. Eingeschüchtert mag
man sein durch die Ausmaße und die Unüberschaubarkeit. Doch was woanders unvereinbar
ist, zeigt sich hier als eine einzigartige Einheit: Die Revolution dicht neben
dem Prunk, die Schäbigkeit neben dem Bunten, die Schönheit neben dem Schmutz,
die Armut neben der Würde, dies alles schließt sich in Mexiko nicht aus, sondern
gehört ganz eng zusammen.
Dieser Text von Susanne Asal ist im Sympathie-Magazin "Mexiko verstehen" erschienen.