Der Zócalo in Mexiko-StadtDie Journalistin Margit Kohl zeichnet ein stimmungsvolles Bild des Mittelpunktes der Weltstadt und des gesamten Landes.
Der Zócalo ist Zentrum und Spiegel des mexikanischen Lebens seit die aztekische Wanderung am Texcoco-See endete. An ihm befinden sich als Zeugnisse bewegender Epochen herausragende monumentale Bauten.
Heute wird das Erscheinungsbild des Platzes durch den Eindruck der Leere überlagert. Mit dem Verfall der so wichtigen Kathedrale droht sich sogar ein weiteres für Mexiko einschneidendes Ereigniss unmittelbar am Zócalo zu ereignen.
Jedoch lassen sich Händler, Arbeitsuchende, Demonstranten und Tänzer nicht in ihrem vielstimmigen Treiben beeinträchtigen, das sie auf dem Zócalo vor dem Palast des Präsidenten Tag für Tag ausleben. Dieser Palacio Nacional ist dank seiner bemerkenswerten murales und dem jährlich wiederkehrenden Rausch in den Festnächten vor dem Unabhängigkeitstag zentraler öffentlicher Anziehungspunkt geblieben.
Die Leere der Mitte - Am Tag der Freiheit erschüttert
ein Schrei den Zócalo in Mexiko-Stadt: Viva México!
Die Azteken folgten den Verheißungen ihrer
Götter
Die Flügel gespreizt, eine Schlange im Schnabel, auf einem Kaktus sitzend.
Dieses Bild eines Adlers vor Augen waren die Azteken einst im Norden des Reiches
aufgebrochen, um - einer Verheißung ihrer Götter folgend -, einen Platz für
ihre neue Hauptstadt zu suchen. Ausgerechnet auf einer Insel inmitten einer
moorigen Seenlandschaft fanden sie dann den Göttervogel, der sich später im
Zentrum der mexikanischen Nationalflagge niedergelassen hat.
In all den Jahren ist der See zu einem Meer aus Platten versteinert. Bei schwülen
29 Grad dampfen die Steine, als würde sich der Texcoco-See noch einmal aus
dem Untergrund melden. Auf dem hatten die Azteken im 14. Jahrhundert ihre
Hauptstadt Tenochtitlán erbaut. Die Stadtplaner wussten auf geschickte Weise
die Inseln des Sees zu verbinden. Eine Art Venedig, durchzogen von Kanälen,
entstand, bis spanische Eroberer das Land überfielen und in nur wenigen Jahren
die indianische Kultur auslöschten. Aus den Tempeltrümmern der Azteken bauten
sie die Stadt Mexiko. Erdbeben, Überschwemmungen, Revolution und Bürgerkriege
folgten. Geblieben ist einer der größten Plätze der Welt: der Zócalo von Mexiko-Stadt.
Terrasse mit Aussicht
Um das ganze Welttheater dieses Platzes stilvoll zu Füßen zu haben, bedarf
es eines Logenplatzes mit großzügiger Aussicht - zum Beispiel einer Dachterrasse.
Versteckt liegt das unauffällige Entrée des Hotels Majestic in einer Seitenstraße,
so als solle nicht jeder gleich den Zugang zu dem Haus am Zócalo finden. Ein
Belle-Epoque-Hotel, etwas in die Jahre gekommen zwar und nicht mit dem Prunk
farbiger Glaskuppeln wie das Grandhotel in nächster Nachbarschaft aufwartend,
dafür aber mit zivilen Preisen und einer Dachterrasse mit Blick auf das Epizentrum
der Megalopole. Bei Tanzmusik aus dem Foyer und Vogelgezwitscher aus den Volièren
schweben auch Nichthotelgäste mit dem schmiedeeisernen Aufzug hinauf in den
siebten Stock.
Der Reiz dieses Platzes liegt im engen Zusammenspiel dreier Kulturen: der
spanisch-katholischen, der präkolumbianischen und der mexikanischen. Rund
um Zócalo breitet sich die ganze Geschichte Mexikos aus: Im Norden dominiert
die mächtige Kathedrale in barocker Fassade, ihr gegenüber regiert die weltliche
Macht im Sitz des Bürgermeisters und der Stadtverwaltung. Die komplette Ostseite
beherrscht der Präsident mit seinem Nationalpalast. Ganz versteckt zwischen
Palast und Kathedrale klafft eine Wunde, die sich nicht schließt: die freigelegten
Reste von Tenochtitlán mit dem Haupttempel der Azteken, dem Templo Mayor.
Das Heiligtum der Indios haben die Spanier geschliffen und schräg gegenüber
Handelsarkaden errichtet, in denen noch heute Kaufleute ihre Waren anbieten.
Freie Mitte der Hauptstadt
Der Hauptplatz Mexikos wirkt im Vergleich zu anderen Stadtzentren wie Mérida
oder San Cristóbal de las Casas aufgeräumt und leer. Ein steinernes Quadrat
- 240 auf 240 Meter - Platz für beinahe 10 Fußballfelder. Keine Bäume, keine
Bänke zum Ausruhen, keine Pavillons. Der vielleicht schlechteste Ort, die
Liebste zu treffen. Zum Kuscheln und Küssen verabreden sich die Mexikaner
lieber im Parque Alameda oder dem Chapultepec-Park - da schützen Büsche vor
Blicken, und außerdem liegt man auf Rasen bequemer.
Nichts Liebliches ist also am Zócalo geblieben, seit Luis Barragán, der große
Architekt der mexikanischen Moderne, den Platz zum Plattensee umbauen ließ:
Bäume und Pavillons mussten weg, Straßen waren wichtiger. In den frühen zwanziger
Jahren war der Zócalo eine botanische Anlage mit angelegten Wegen und Bäumen,
umfahren von Trambahnen aus Holz. Heute schraubt sich eine nicht abreißende
Blechlawine um den Platz, vorzugsweise grün-weiße VW-Käfer-Taxis, denen eines
fehlt: der Beifahrersitz. Keine Sparmaßnahme hat die Fahrer dazu bewogen,
sondern die Absicht, den Gästen einen besseren Komfort beim Einsteigen zu
bieten.
So gesehen haben Käfertaxis und Zócalo eines gemeinsam: beiden ist etwas abhanden
gekommen. Beim Zócalo ist es seine urprüngliche Existenzberechtigung. General
Santa Ana plante, auf dem Platz ein mexikanisches Nationaldenkmal zu errichten.
Der Plan ging schief, denn weiter als bis zum Sockel (Zócalo) kam es nicht
(...). Mit dem Auge eines Hurrikans wurde der Platz schon verglichen: einem
Ort der Stille inmitten eines lärmenden Molochs. Einzig eine überdimensionale
Nationalfahne lotet diese Mitte aus. Nach dem Roten Platz in Moskau soll der
Zócalo der zweitgrößte Platz der Welt sein. Mit seiner strengen Symmetrie
eignet er sich ideal als Aufmarschplatz für Militärparaden. Eine Million Menschen
sind auf ihm schon zusammengekommen. Jeden Morgen um sechs ist die Leibgarde
des Präsidenten damit beschäftigt, Trommeln zu rühren, Trompeten zu blasen
und die Fahne zu hissen. Jeden Abend um sechs rollen sie das 22 mal 17 Meter
große Tuch mit dem Schlange fressenden Adler zu einer Stoffschlange zusammen
und nehmen es mit in den Präsidentenpalast. Doch nachts geschehen manchmal
merkwürdige Dinge. Als würden sich Schlange und Adler heimlich ohne Trommelwirbel
entrollen wollen, weht plötzlich wieder die Fahne. Man weiß nicht wie, aber
bis zum Morgen ist sie garantiert wieder verschwunden. Ob die Militärs nachts
heimlich üben müssen, damit bei Tag alles klappt bei der Parade?
Rache der Götter
Ein Bollwerk des Christentums sollte sie werden, die Kathedrale, die die Spanier
aus den Steinen der alten Aztekentempel errichteten. Die 250 Jahre Bauzeit
haben die unterschiedlichsten architektonischen Stilrichtungen an der ältesten
und größten Kathedrale des amerikanischen Kontinents hinterlassen. Beinahe
weitere 250 Jahre lang schienen die gestürzten Götter auf Rache gesonnen zu
haben. Am Ende des 20. Jahrhunderts war ihre Zeit gekommen: Mexiko-Stadt war
zur größten Stadt der Welt mutiert und seine durstigen Einwohner saugten an
den Grundwasserreserven. Mit fatalen Folgen, denn zwischen den alten Tempelfundamenten
entstanden Hohlräume, die sich nicht mehr füllten. Mexiko-Stadt versank und
versinkt - sukzessiv und nicht gleichmäßig. Manche Teile eines Gebäudes zieht
es schneller als andere in den Untergrund. Die Doppeltürme der Kathedrale
neigen sich leicht zur Seite, während ihr barocker Rumpf mit schätzungsweise
130 000 Tonnen im sumpfigen Boden verschwindet. Das ganze Gotteshaus scheint
auf den sanften Wellen des früheren Texcoco-Sees zu schwanken. Beim Erdbeben
von 1985 senkte sich der Boden ein weiteres Mal. Mehr als sechs Meter beträgt
nun schon das Gefälle zwischen Eingangspforte und Hochaltar. Der Innenraum
- ein Raum jenseits barocker Paradiesvorstellungen: Ein Gerippe aus Stahl
soll die mächtigen Kirchenschiffe vor dem Sinken retten. Im Bauch der Kathedrale
bewegt sich der Betrachter durch das Knochengerüst eines sterbenden Dinosauriers.
Wie ein Dirigent überwacht der Zócalo ein Orchester
vielstimmiger Töne und Geräusche
Draußen vor der schmiedeeisernen Umzäunung der Kathedrale sind Männer mit
Schildern und Handwerkszeug noch vor Sonnenaufgang die ersten auf dem Platz.
Tagelöhner bieten auf dem improvisierten Arbeitsmarkt ihre Dienste an. Auf
Pappkartons steht, was sie können: Abflüsse freimachen, Fliesen legen, Wände
streichen. Wer Arbeiter braucht, sucht sich hier den Passenden aus. Je weiter
der Tag voranschreitet, desto geringer der Lohn. Manche warten am Abend noch
immer vergeblich auf einen Auftrag.
Auf dem Platz breiten Händler auf Decken und Tüchern ihren Kitsch aus: Flugdrachen,
Marionetten als tanzende Knochenmännchen zwischen Plastikkugelschreibern und
Einwegfeuerzeugen. Einer zieht einen Blechvogel auf, der sich knatternd in
den Himmel schwingt, bevor er im Sturzflug eine Bauchlandung auf dem Pflaster
macht.
Ein wenig verloren sehen sie aus, die paar Demonstranten mit Gasmasken und
Transparenten: Hoy no respiro - "Heute atme ich nicht", steht auf den Transparenten,
denn die schmutzige Luft hat wieder einmal einen statistischen Rekord gebrochen.
Es hat nicht viel genützt, dass die Regierung jedem Automobil einen Aufkleber
mit hoy no circula (heute fährt es nicht) verpasst hat, jeden Fahrzeughalter
gezwungen hat, einen bestimmten Tag der Woche die Karre stehen zu lassen.
Wer es sich leisten konnte, hat sich einfach einen Zweit-, Dritt- oder Viert-Wagen
gekauft.
Egal, ob es um Solidarität mit den Aufständischen in Chiapas geht, das Landproblem,
den Streik an der großen Universität im Süden oder Tierversuche - wer sich
organisiert aufregen will, der tut es am Zócalo. Doch richtig hinsehen tun
meistens nur die Touristen. Damit sich diese aber nicht nur erschrecken, tanzen
immer wieder mal ein paar Folklore-Trupps mit vielen Federn und Glöckchen
über das Pflaster.
Wie ein Dirigent überwacht der Zócalo ein Orchester vielstimmiger Töne und
Geräusche: Die Glocken der Kathedrale, die Pauken und Trompeten der Militärs,
die Trommeln der indígenas, die Rufe der Händler und die der Demonstranten,
der dröhnende Verkehr, Polizeisirenen, Trillerpfeifen, Busgehupe. Über all
dem schwebt ein durchdringender Geruchscocktail: der Geruch von Maistortillas,
von süßem Parfüm, Weihrauch und Abgasen. Und der von Putzmitteln, denn in
jedem Gebäude wird permanent der Boden geschrubbt.
Viva México!
Murales heißt das Zauberwort, das ein Lächeln auf die finster dreinblickenden
Gesichter der schwerbewaffneten Militärs am Eingang des Nationalpalastes zaubert
und Zugang zu den Innenhöfen verschafft. Die Wandgemälde Diego Riveras, entstanden
in den 20-er Jahren, porträtieren historische Szenen und Persönlichkeiten
Mexikos von der Zeit der Eroberung bis zur Gegenwart: Die Spanier sind als
Karikaturen, die Indianer liebevoll dargestellt. Die Geschichte Mexikos als
Klassenkampf. Die Wand als Bildungsträger.
Plaza de la Constitución, Platz der Verfassung, so lautet der offizielle Name
des Zócalo, auf dem 1813 die erste Verfassung Mexikos verkündet wurde. Der
monumentale Renaissance-Bau des Präsidenten beansprucht die ganze Ostseite
des Platzes. Erbaut auf den Ruinen eines anderen Palastes, dem des Montezuma,
ließ 1529 Hernán Cortés hier seine Residenz errichten. Über dem Balkon des
Mittelportals hängt eine kleine Glocke, die den mächtigen Glocken der Kathedrale
Konkurrenz macht - nicht weil sie lauter schlägt, sondern weil sie für die
Freiheit schlägt. Mit ihr verkündete Pfarrer Miguel Hidalgo am 16. September
1810 in Dolores die Unabhängigkeit Mexikos. Jedes Jahr am 15. September wiederholt
der Staatspräsident eine Stunde vor Mitternacht vom Balkon den Grito de Dolores,
den Ruf von Dolores: Viva México, es lebe Mexiko!
In dieser Nacht werden sie alle zusammen sein - Mexikaner, die die Freiheit
feiern und die, die damit weniger einverstanden sind. Der Platz ist neues
und altes Zentrum. Was geblieben ist von jener Zeit, als die Götter noch die
Geschicke der Menschen bestimmten? Nun ja, der Adler sitzt noch immer mit
gespreizten Flügeln auf einem Kaktus und trägt eine Schlange im Schnabel.
Und manchmal, wenn die Fahne im Wind weht, sieht es aus, als würde er fliegen.
Dieser Artikel von Margit Kohl ist in der Süddeutschen Zeitung am 12. September 2000 erschienen.