Philipp Reek pendelte einige Wochen zwischen seinem Praktikumsplatz in der Metropole Guadalajara und der Wohnung im Vorort Zapopan. Diese Fahrten hatten ihren besonderen Reiz, vor allem die erste schier unendliche Busfahrt und eine atemberaubende Tour mit dem Mountainbike.

 

"Mierda – ich bin verloren!"

Gegen 19:00 Uhr trennte ich mich von den anderen Deutschen, um mich auf den Heimweg zu machen. Aber wie nach Hause kommen? Wo sollte doch noch mal der Bus abfahren? Mierda - ich bin verloren! Die Buslinien gehen von 1 bis über 600, dazu noch unterteilt von a bis d. Und Bushaltestellen könnt ihr vergessen, existieren nicht. Genauso wenig wie ein Fahrplan, versteht sich. Ich weiß nur, dass ich mit einem Bus allein nicht weiter komme, sondern einige Male umsteigen muss. Super. Ich frage einige Busfahrer nach meiner Colonia, bekomme aber nur Achselzucken. Das gibt es doch nicht. Langsam wird es dunkel und schon sieht alles noch mal anders aus. Ziemlich verloren fühle ich mich plötzlich in dieser 5-Mio.-Stadt, in der alles nicht so geordnet abläuft wie in Deutschland. Ich rufe zu Hause an, doch keiner da. Klar, die arbeiten ja auch noch.

Also Mut zur Lücke. Ich steige in der Innenstadt nicht in einen Bus, sondern setzte mich in den Tren Ligero (U-Bahn) und fahre nach Süden bis zur Endhaltestelle. Die Richtung muss so stimmen und vielleicht komme ich von da weiter. Die Fahrt kommt mir ewig vor. Nun muss ich mit dem Bus weiter. Aber mit welchem? Ich erfahre, dass ich die 619 nehmen kann, auch 619 a oder d, aber auf keinen Fall b oder c, weil die vorher schon irgendwo abbiegen. Bueno, hoffe, alles richtig verstanden zu habe und warte eben auf den Bus. Wann wird er wohl kommen? Ich erinnere mich an Afrika, wo wir auch manchmal warteten und keiner wusste, wann es weiter gehen würde. Ich versuche ruhig zu bleiben. Doch mittlerweile wird es richtig dunkel und ich befinde mich in der Peripherie dieser Millionenstadt. Leichtes Unbehagen. Unzählige Busse passieren und Menschen steigen ein oder aus, aber keine 619. Hab ich das mit den Zahlen auf Spanisch auch nicht durcheinander gebracht?

Da, oh, was sehe ich denn da? Ist es auch keine Fata Morgana? Mein Bus taucht im Staub und Gestank der Strasse auf. Ich vergewissere mich beim Busfahrer und bitte ihn, mir mitzuteilen, wo ich denn aussteigen müsse. Wir fahren ein ganzes Stück und die Fahrt gleicht der in einem Fahrgeschäfte im Erlebnispark, für die man viel Geld bezahlt. Hier ist alles noch viel realer und kostet nur 3,50 Pesos (30 Cents). Bei voller Fahrt öffnet sich die Tür, der Fahrer gibt mir ein Zeichen und bremst scharf ab. Ohne zum Stehen zu kommen springe ich raus und der Bus rast weiter. Das sind regelrechte Helldriver. Nun bin ich am Wohngebietes und muss zu Fuß weiter. Dank eines kleinen fotokopierten Planes funktioniert das auch ganz gut und nach 30 Minuten Fußmarsch komme ich um 22:00 Uhr zu Hause an, nach drei Stunden. Wow.

Egal, die Wege sind hier eben alle etwas länger und in den nächsten Tage schaffe ich es dann in eineinhalb Stunden.



Augen zu und durch

Habe mich heute dazu entschlossen, das MTB von Rafa zu nehmen und damit in die Stadt zu fahren. Meine Gastfamilie schüttelte zwar nur mit dem Kopf, weil die 20 km bis ins centro viel zu weit und der Verkehr viel zu gefährlich seien. Aber ich ließ mich nicht abhalten. Da kaum Luft im Reifen war, eierte ich zur nächsten Tanke und sorgte für mehr Luft unter der Felge. Doch nur für kurze Zeit, da nach wenigen Metern der Schlauch hinten platzte. So eine Sch...! Ich erkundigte mich nach dem nächsten Radgeschäft, und tatsächlich, in einer annehmbaren Entfernung (das ist hier immer sehr wichtig) sollte es eines geben. Nach 30 Minuten schieben und mehreren Nachfragen wurde ich fündig. Ich kaufte einen Schlauch und lieh mir das nötige Werkzeug. Schnell war klar, warum der Schlauch platzte. Felgenband Fehlanzeige. Die spitzen Speichennippel hatten sich so richtig in das Gummi gebohrt. Also kaufte ich das auch noch und besorgte bei der Gelegenheit noch einen neuen Mantel, weil der alte völlig fertig war. Inklusive einem netten Gespräch mit dem Verkäufer zahlte ich für alles zusammen umgerechnet 7,- Euro. Sehr angenehm.

Und dann ging es richtig los in den Dschungel dieser Großstadt. Mit dem Bike ist alles noch viel spektakulärer. Beide Augen auf die Fahrbahn gerichtet, um nicht eines dieser vielen riesigen Schlaglöcher zu erwischen, die ein sofortiges Ende der Fahrt bedeuten würden. Also bitte keine Beschwerden mehr über deutsche Strassen. Zwei Augen konzentrieren sich auf die Blechlawinen. Besonders die Busse muss ich im Auge behalten. Einen Blinker kennen Mexikaner nicht, und wenn, dann darf man sich auf keinen Fall darauf verlassen. Auf einen rücksichtsvollen Schulterblick beim Abbiegen hoffe ich ebenfalls vergeblich. Zwei Augen sind auf Ampeln, Verkehrs- und Straßenschilder gerichtet. Auch von höchster Wichtigkeit, denn die Autos stehen an den Ampeln wie in der Formel 1. Die Motoren heulen und sobald die Ampel auf grün springt, quietschen die Reifen. Dabei versehentlich mit dem Rad auf die Kreuzung zu rollen, kann tödlich sein. Klingt zwar hart, ist es aber auch. Man muss es einfach sagen wie es ist. Wer nun mitgezählt hat, kommt auf sechs Augen. Unmöglich? Stimmt! Zu allem kommt noch die extrem schlechte Luft durch die Abgase. Das wird mir beim Radeln noch bewusster, weil die Atmung auch tiefer wird. Dazu der Lärm, das Gehupe der Autofahrer. Denn wer was auf sich hält, der hupt. So ist das hier. Dass es dadurch trotzdem nicht schneller voran geht, scheint nicht zu interessieren.

Nach einiger Zeit zucke ich nicht mehr jedes Mal zusammen, wenn ein Bus oder Truck hinter mir plötzlich das Horn sprechen lässt. Oder bei den Verkehrspolizisten, die mit ihren Trillerpfeifen versuchen, an den Knotenpunkten den Verkehr zu regeln. Eine unglaubliche Lärmkulisse, die für mich als leidenschaftlichen Biker ein ganz besonderes Erlebnis ist. Ich bin kein Kind von Traurigkeit und das ist hier auch genau richtig. Wer hier passiv und zurückhaltend fährt, geht unter. Ich empfinde es als angenehmen Stress. Es ist einfach ein extrem geiler Thrill. Zudem bin ich überall viel näher dran, halte an, wo ich sonst mit dem Bus nur durchrausche, und sehe mal endlich, wo ich sonst mit der Metro durch die Erde sause. Zeitlich habe ich nur wenig länger gebraucht als mit Öffentlichen Verkehrsmitteln.

 

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